Die juristische Gleichstellung mögen wir erkämpft haben, die Gleichstellung in der Lebenspraxis noch lange nicht!

Sehr verehrte Damen und Herren.

Unsere Gesellschaft hat sich angewöhnt, sich selbst als fortschrittlich, aufgeklärt und progressiv zu beschreiben. Bei uns – so heißt es – haben alle die gleichen Chancen. Für Frauen, für Minderheiten und für MigrantInnen hat sich viel verändert, hat sich vieles zum Positiven gewandelt. Wer die großen Fortschritte und Verbesserungen nicht erkennt, wer sie nicht wahrhaben will, der – oder besser die – ist rückwärtsgewandt, verbissen, altmodisch und schlichtweg nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Wer sich zuletzt noch für die Belange von Frauen eingesetzt hat, galt unlängst als Ewiggestrige.

Dabei scheint es doch kein Zufall zu sein, dass Kate Blanchett – die australische Schauspielerin – in ihrer Dankesrede bei der Oscarverleihung am vergangenen Sonntag darauf hinwies, dass ebenjene Filme, in denen Frauen im Mittelpunkt stehen, in dem Räderwerk der großen Filmindustrie noch immer ungern gesehen werden. Sie machte deutlich, wie schwer es ist, die Manager der Filmindustrie davon zu überzeugen, dass es große Märkte für Frauenthemen gibt. Die Wahrnehmung von Kate Blanchett ist ein Hinweis darauf, dass eine Ungleichbehandlung zwischen Frauen und Männern juristisch heutzutage zwar nicht mehr existent ist, in der Lebenswirklichkeit jedoch noch viel zu häufig durchschlägt.

Die Scheinheiligkeit dieser gesellschaftlichen Selbstzufriedenheit entlarvt sich dieser Tage an ganz unterschiedlichen Stellen. Nachdem junge Frauen in den letzten 20 Jahre erzählt bekommen haben, im Beruf zähle die Leistung – genau wie in der Ausbildung oder dem Studium – stellen sie heute verwundert fest, dass dies eine Lüge war. Über hundert Jahre nach dem ersten Weltfrauentag und fast 50 Jahre nach 1968 müssen wir ernüchtert feststellen: Die juristische Gleichstellung mögen wir erkämpft haben, die Gleichstellung in der Lebenspraxis noch lange nicht. 

Wie lange die Wut zahlreicher Frauen unterdrückt wurde, wie sehr sie sich vielleicht auch selber zusammengerissen haben, zeigt die Lautstärke des Aufschreis im vergangenen Jahr. Nachdem der angeblich liberale Ex-Minister Rainer Brüderle die Stattlichkeit einer Stern-Journalistin gelobt hatte und die junge Frau genau diese Art von herablassender Sexualisierung ihrer selbst öffentlich gemacht hat, brach eine Welle öffentlicher Empörung los. Zehntausende, hunderttausende junge Frauen meldeten sich bei Twitter und Facebook zu Wort und taten ihren Ekel kund.

Vielleicht verdient man als Frau in einigen Branchen heute das gleiche wie die männlichen Kollegen. Doch die häufig alltägliche Erfahrung, von männlichen Kollegen, nicht selten Vorgesetzten, herablassend und auf sein Geschlecht reduziert behandelt zu werden, ist eine Erfahrung, die fast alle Frauen schon über sich haben ergehen lassen müssen. Ich sage Ihnen: Auch als Politikerin, vielleicht gerade als Politikerin ist das auch so!

Und gleichzeitig erleben wir in zahlreichen Feldern, dass Frauenberufe zusammengestutzt werden.

Lassen Sie mich konkret werden:

Derzeit tobt ein Kampf um die Zukunft der Geburtshilfe. Tausenden freiberuflichen Hebammen droht ein regelrechtes Berufsverbot ab der Mitte des nächsten Jahres. Das liegt zunächst einmal daran, dass es keine Versicherungsgesellschaft mehr gibt, die bereit ist, die Leistung freiberuflicher Hebammen abzusichern. Der eigentliche Grund ist jedoch, dass in Berlin der politische Wille fehlt, die Zukunft der Geburtshilfe zu sichern. Unser grüner Einsatz für die freiberuflichen Hebammen ist ein frauenpolitisches Thema sondergleichen:

Denn erstens gibt es in ganz Deutschland nur eine einzige männliche Hebamme (genannt "Entbildungspfleger") und zweitens wollen wir die Wahlfreiheit werdender Mütter, wie und wo sie entbinden, erhalten.

Es kann doch nicht sein, dass in einer Zeit, in der alle den demographischen Wandel beklagen und die niedrige Geburtenrate fürchten, junge Frauen noch zusätzlich verunsichert werden, weil ihnen professionelle Beratung und Erfahrung versagt wird.

Mich persönlich besorgt es, wenn in Berlin ein alter, konservativer Mann über die Zukunft junger Frauen entscheidet. Ich setzte deshalb große Hoffnungen in den Erfolg der Bundesratsinitiative, die die schleswig-holsteinische Landesregierung auf Drängen der Grünen in die bundespolitische Arena geworfen hat und der sich nun immer mehr Länder anschließen. Haben wir Erfolg, ist das ein Erfolg für Frauen! Für Hebammen und Mütter.

Wir Grüne stehen für eine gelebte Gleichberechtigung. Wir haben im Land zwei Ministerien. Sie sind besetzt von einem Mann und einer Frau, Robert Habeck und Monika Heinold. Ich als Frau bin Fraktionsvorsitzende, die parlamentarische Geschäftsführerin, meine Stellvertreterin Marret Bohn, ist ebenfalls eine Frau. Nur die Hälfte unserer zehn Abgeordneten sind Männer. Wir Grüne leben die Gleichberechtigung jeden Tag und in jeder unserer lokalen Strukturen.

Insgesamt: Ich will die enormen Fortschritte, die in den vergangenen einhundert Jahren erkämpft worden sind, überhaupt nicht kleinreden. Die Fortschritte waren und sind beachtlich. Nicht nur für Frauen, sondern auch für andere Gruppen:

Deutschland erkennt sich heute selbst als Einwanderungsland. Das ist ein Fortschritt.

Die eingetragene Lebenspartnerschaft bietet homosexuellen Menschen die Möglichkeit, ein Leben in Zweisamkeit aufzubauen. Das ist auch ein (kleiner) Fortschritt zu erkennen.

Frauen machen heutzutage häufiger und auch bessere Schul- und Universitätsabschlüsse als Männer. Das katholische Mädchen vom Dorf hat heute viel größere Freiheiten als noch vor dreißig Jahren. Auch das: Ein Fortschritt.

Doch gleichzeitig beobachten wir, dass die Fortschritte in den verschiedenen Feldern an Grenzen stoßen: Grenzen, die die Betroffenen fassungslos zurücklassen. Öffentlich, in Leitmedien und sogar von der vermeintlich liberalen FDP wird die Gleichwertigkeit homosexueller Liebe angezweifelt, als Lifestyle verkannt und abgewertet.

Dieser Tage diskutiere ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen von SPD und SSW die Möglichkeit eines Islamvertrages in Schleswig-Holstein – so wie er in Bremen oder in Hamburg bereits geschlossen wurde. Wenn ich mal aus dem Nähkästchen erzählen würde, wie dort über unsere muslimischen MitbürgerInnen gesprochen wird, gäbe es  - wie ich finde zurecht – einen weiteren großen Aufschrei. Das geht mir unglaublich auf die Nerven. Anstatt hier einfach Muslimen und Musliminnen die Möglichkeit zu geben, wichtige Feiertage gemeinsam mit ihren Familien zu feiern, wird unseren MitbürgerInnen eine symbolische Anerkennung ihrer Rechte bisher versagt.

Wer sich heute hinstellt und behauptet, die Frauenbewegung, der Kampf um Emanzipation und Gleichberechtigung sei bereits gewonnen, sei gelaufen und müsse nicht weiter fortgesetzt werden, der hat Angst vor einer wirklichen Gleichberechtigung. Wir alle wissen, dass noch viel zu tun ist. Wer das Gegenteil behauptet, will weitere Diskussionen vom Tisch wischen und uns klein halten. Denn auch vor mehr als hundert Jahren hatte Clara Zetkin schon mit den gleichen Argumenten zu tun und auch in den darauf folgenden Wellen der Frauenbewegung, in den 70er und 90er Jahren, wurde die Notwendigkeit weiterer Reformen kleingeredet. Da stehen wir heute und da machen wir Grüne weiter, wo wir vor fast 35 Jahren angefangen haben.

Vielen Dank

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